„Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen,
der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“
(1 Petrus 3,15)
Ein 13-jähriges Mädchen kommt eine Woche nach dem Tod ihrer Schwester das erste Mal wieder in ihre Klasse. In der Zwischenzeit fand kein Gespräch mit ihr und den anderen Klassenkameraden statt. Der Tod ihrer Schwester wird bei diesem ersten Kontakt mit den Mitschülerinnen und Mitschülern und der Klassenlehrerin nicht einmal kurz angesprochen oder erwähnt. Das Mädchen steht unter einem immensen Druck, der sich im Verlauf der Unterrichtsstunde immer mehr aufbaut. „Vor einer Woche ist mein Leben auf den Kopf gestellt worden und hier in der Klasse verliert man darüber noch nicht einmal ein Wort.“ Nach zwanzig Minuten steht sie auf und verlässt das Klassenzimmer. Niemand folgt ihr. Nahe eines körperlichen Zusammenbruchs, schockiert und enttäuscht geht sie nach Hause.
Solche Schilderungen von betroffenen Schülerinnen und Schülern sind kein Einzelfall. Sie beschreiben die Hilflosigkeit, mit der den Trauernden in der Schule begegnet wird, und welche Auswirkungen dieses Nicht-Ansprechen auf die Betroffenen hat. Mit einfachsten Mitteln wäre dieser Schülerin der ‚Neuanfang’ in ihrer Klasse wesentlich erleichtert worden. Hätte man sie in der Klasse auf ihre Situation angesprochen, hätte sie zum Beispiel wählen können zwischen einem kurzen oder einem ausführlicheren Bericht über die letzten Tage, wäre sie mit dem Gefühl nach Hause gegangen, dass „die Schule’“ ihre Situation realisiert hat und Begleitung signalisiert. Und dass sie nicht, wie geschehen, Normalität „vorspielt“, wo es momentan keine Normalität gibt. Vielleicht hätte es auch schon genügt, wenn in der Klasse wenigstens der Name ihrer verstorbenen Schwester ausgesprochen worden wäre mit dem deutlichen Hinweis, dass es allen „sehr, sehr leid tut, dass Sabine gestorben ist“. Dies ist das Minimum einer ersten Begegnung mit trauernden Schülerinnen und Schülern nach einem lebensverändernden Verlusterlebnis.
Die noch recht junge Lehre der Traumatologie stuft den Tod eines Familienmitgliedes als „schweres Trauma“ ein. Traumata zeichnen sich im Unterschied zur Krise dadurch aus, dass sie sich in der Regel nicht mehr alleine und ohne weiteres Zutun regulieren lassen. Unterstützung von anderen ist wichtig, um der Gefahr von nachhaltigen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen zu entgehen. Das Beispiel macht deutlich, wie sich das Weltbild von Kindern nach einem solchen Ereignis verändert. Auch das Selbstbild dieser Kinder wandelt sich. Viele offene Fragen stehen im Raum, auf die Kinder eine Antwort suchen: „Würden meine Eltern um mich auch so trauern, wie um meinen Bruder?“, „Vielleicht liegt es an mir, dass sie so traurig sind.“, „Hätte ich nicht besser auf Mama aufpassen müssen?“ (Schuld), „Stirbt Papa jetzt auch?“, „Ich habe auch manchmal abends Kopfschmerzen“ (Ängste). Trauer führt zu einer massiven Verunsicherung der kindlichen Lebensbereiche. In dieser Situation werden es die meisten Kinder schwerer haben, sich auf neue Anforderungen in der Schule und auf Veränderungen oder Weiterentwicklungen im persönlichen Bereich einzulassen. Denn nur wenn wir uns sicher fühlen, können wir weitergehen und einen nächsten Schritt wagen. Trauer stoppt also eher begonnene Entwicklungsprozesse und führt in den einzelnen Bereichen, z.B. in der Entwicklung von Selbstständigkeit, oft zu Rückschritten. Trauer ist zwar keine Krankheit, kann aber durchaus je nach Ausprägung und Dauer krank machen. Schulen haben also allen Grund, sich um trauernde Kinder nach dem Tod eines nahen Angehörigen oder Freundes zu sorgen, sie in ihrer Trauer ernst zu nehmen und ihnen aktiv zu begegnen. Zum Hinschauen und aktiven Gestalten der ersten Trauerzeit gibt es keine Alternative.
In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung von hilfreichem Umgang mit Trauer in der Schule besonders deutlich. Hier verbringen Kinder einen Großteil ihrer Lebenszeit, hier erhalten sie einige der wichtigsten Impulse für ihr weiteres Leben. Gemeinsames Trauern und das gemeinsame Initiieren von Trauerritualen in der Schule unterstützt die Kinder positiv in ihrer zu leistenden Trauerarbeit.
Trauernde Kinder und Jugendliche brauchen die Begleitung durch erwachsene Vertrauenspersonen aus ihrer Umgebung. Die eigene Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Tod verleitet uns, gegenüber den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu schweigen und ihre Situation nicht anzusprechen. Gerade in der Schule, einem für Kinder und Jugendliche so bedeutungsvollen und prägenden Lebensraum, ist eine gemeinsame Auseinandersetzung mit den Lehrerinnen, Lehrern und Klassenkameraden besonders wichtig und heilsam. Der Mut zur Auseinandersetzung mit dem Thema wird belohnt, denn das gemeinschaftlich erlebte Trauern fördert die Auseinandersetzung und das Entwickeln von neuen Perspektiven - sowohl beim Trauernden als auch bei den Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern.
Immer häufiger wenden sich Schulen aus Stadt und Landkreis Rosenheim deshalb auch an die „Krisenseelsorge im Schulbereich“„ (KiS), entweder im Akutfall, um Unterstützung bei einem Todesfall in der Schulfamilie zu erhalten, oder um einen Termin für eine Fortbildung zum Thema „Krisen im Schulbereich“ anzufragen. Dies ist ganz im Sinne der Arbeit von KiS. Durch zahlreiche Einsätze und erweiterte Erfahrungen in der Begleitung bei Todesfällen an Schulen tauchen aber immer neue Fragen auf, die bei Besprechungen zwischen den Systemen der Unterstützung geklärt werden.
Man kann auf jeden Fall positiv vermerken: Es wächst allmählich ein Netzwerk in unserer Region heran, um in Kooperation mit Schulpsychologen, der Notfallseelsorge, den Erziehungsstellen und vielen anderen Institutionen für die Bewältigung von Tod und Trauer zur Verfügung zu stehen.
Werner Kassler
Mitarbeiter in der
Krisenseelsorge im Schulbereich (KiS)
der Erzdiözese München und Freising